Der Schlüssel
Der Regen hatte die Einkaufsstraßen fast leergeräumt. Nur vereinzelt eilten einige Menschen mit Schirm oder hochgezogenem Kragen durch die Schaufensteralleen und auch ich beeilte mich, mein schützendes Auto zu erreichen.
Vor mir lief eine junge Frau. Ihre schwarzen Haare hingen naß über ihre buntgewebte Jacke. Ich hatte ihre Höhe schnell erreicht. Sie schien es trotz Regen nicht eilig zu haben. Noch zwei schnelle Schritte und ich wäre an ihr vorbei, da hörte ich ein 'Kling'. So wie wenn etwas metallenes herunterfällt. Ich blieb stehen und schaute nach unten. Auf einem Gullideckel lag ein Schlüssel, fast wäre er in den Gulli hineingefallen. Ich hob ihn auf. Es könnte ein Wohnungsschlüssel sein. Die junge Frau vor mir mußte ihn verloren haben, aber sie schien ihren Verlust nicht bemerkt zu haben, lief unverändert und naßwerdend weiter.
Ich lief ihr nach. "Hallo!", rief ich ihr zu. Sie blieb stehen und sah mich an. An ihren Haaren lief ihr das Regenwasser über das Gesicht. Ein Gesicht mit einem traurig melodischen Ausdruck. Sie paßte in diesen Regen - fast als hätte ein Maler sie hier hineingemalt. "Ich glaube, sie haben etwas verloren" und zeigte ihr den Schlüssel. "Ja," erwiderte sie, "das stimmt." Zögernd nahm sie den Schlüssel aus meiner Hand und steckte ihn in ihre Tasche. Sie war anders, als die Frauen, die ich bisher kannte. Ihre regennnasse Erscheinung strahlte trotz der Traurigkeit eine fremdartige, zarte Schönheit aus. "Darf ich sie auf einen Kaffee einladen?", fragte ich sie. Es war eine Frage, die auf eine merkwürdige Art in den Regen hineinpaßte. Sie sah mich an, senkte kurz den Blick und sah dann die Straße entlang. Schließlich sah sie mich wieder an. "Ja, warum eigentlich nicht." Ich war ein wenig überrascht über ihre Antwort, aber sie paßte zu ihr. Wir lächelten uns an - und ich war froh, keinen Schirm dabeigehabt zu haben.
Im Eingang des Café's strich sie sich einmal kurz über die Haare und schüttelte sie ein wenig in Form. Ich beobachtete sie dabei aus dem Augenwinkel und lächelte in mir. Sie war auch irgendwo eine ganz normale Frau.
Sie zog ihre Jacke aus und hängte sie über den Stuhl. Wieder ein 'Kling'. Ich blickte um den Tisch und sah dort den Schlüssel auf den Boden liegen. Ich sah sie an. Sie verzog keine Miene. Irgendetwas in ihrem Gesichtsausdruck schien zu sagen 'Laß ihn liegen. Beachte ihn nicht.'. Ich machte ihr einem spielerischen Vorwurf: "Sie haben schon wieder ihren Schlüssel fallen gelassen." Ich hob ihn auf, und legte ihn auf den Tisch. "Sie werden irgendwann noch einmal vor verschlossener Tür stehen."
"Es ist nicht mein Schlüssel." erwiderte sie, während sie mit dem Schlüssel in ihrer Hand spielte und ihn von allen Seiten betrachtete. "Und die Tür wird für mich auch verschlossen sein." Ihr Blick schien in die Vergangenheit abzuschweifen. "Der Schlüssel gehört zu einem Menschen, der mir einmal sehr viel bedeutet hat. Aber ich konnte nicht in seiner Welt leben. Es war eine sonnige Welt. Und wenn es im Leben einmal geregnet hätte, hätte man gemeinsam vor dem Kamin gesessen. Dennoch fühlte ich mich in ihr, in seiner Welt, eingesperrt. Als er das erkannte, schickte er mich wieder raus. Danach machte er seine Tür nie wieder auf. Ich glaube, er hat mich auch schon vergessen." Ihre Stimme klang traurig und ihr Blick schien in ihrer Kaffeetasse Trost zu suchen. Ich erinnerte mich, wie scheinbar achtlos sie vorhin den Schlüssel fallen ließ. "Er hat dich einfach achtlos fallengelassen, nicht wahr." Sie atmete tief ein und sah mich kurz an. Ihr Schweigen war Antwort genug. "Ja," , sagte sie schließlich, "er wollte nur jemanden, der in seine Welt passt. Es war eine Welt voller Annehmlichkeiten. Aber ich hätte dafür meine Welt aufgeben müssen."
Der Kellner brachte einen neuen Kaffee. "Und deine Welt?", fragte ich sie. "Was ist an deiner Welt so anders? Gibt es dort keine Sonne?" - "Doch, doch.", entgegnete sie, "Aber es macht mir auch nichts aus, mal naß zu werden.", dabei lächelte sie. Ihre Haare waren schon etwas trocken und ich fand sie wunderschön - egal ob Regen, Wind oder Sonne sich ihrer Haare, ihres Aussehen bemächtigten. Ihre Hingabe zu ihrem Leben verlieh ihr diese einzigartige Schönheit.
Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Wir standen auf und verließen das Café. Nach ein paar Schritten sahen wir uns schweigend, einen Gedanken sprechend, an. Der Schlüssel. Wir hatten, ohne es zu bemerken, den Schlüssel im Café vergessen. Sehr wahrscheinlich würde irgendjemand diesen Schlüssel dort finden. Aber da niemand wüßte, damit etwas anzufangen, würde er sicherlich irgendwann ohne einen großen Gedanken weggeworfen werden.
Das alles ist jetzt sieben Jahre her. Sie hat immer noch ihre Welt - und ich die meine. Und gemeinsam
haben wir auch unsere.
Und Regen - Regen hat für mich die schönste Erinnerung ...
Geschrieben unter den Namen Sester